Spielzeit 2017/18

Die vorliegende Spielzeit trägt das Motto „Angst oder Liebe“. In diesen zwei Begriffen, diesen zwei großen, wenn nicht vielleicht größtmöglichen Gegensätzen, versuchen wir die komplexe Lage der Gegenwart bildhaft zu fassen. Ein Begriffspaar, das für uns die großen Emotionen beschreibt, die gerade die Gegenwart dominieren. Unter diesem Motto setzt das Schauspiel Leipzig seine Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen unserer Zeit fort.
Unsicherheiten und Ängste bestimmen das Gefühl vieler Menschen in Deutschland, Europa und der Welt. Gleichzeitig ist allerdings auch zu beobachten, wie nachhaltig sich das Thema Angst politisch und medial be- und ausnutzen lässt. Ideologeme und Propaganda werden als bestimmende Faktoren in der Gegenwart wieder stark diskutiert. Mit und aus Ängsten wird versucht, politisch-kommerziellen Profit zu ziehen. Aber wie sehr sind diese Ängste berechtigt? Und vor allem, wozu führen sie?
Politisch einschneidende Ereignisse wie der Brexit, die US-Wahl (und die Auslöser und Auffälligkeiten ihres Ausgangs) oder auch die Entwicklungen in der Türkei, in Polen und Ungarn bestimmten die Agenda. Als nachgerade symbolhaftes Zeit-Moment kann der Brexit gelten als eine emotional geprägte Richtungsentscheidung, deren nachfolgende Gestaltung und deren Ausgang letztlich ungeklärt ist. Es ist dabei ein markantes Phänomen der Gegenwart, dass richtungsweisende politische und gesellschaftliche Fragen mit sehr knappen Ergebnissen entschieden werden — zwischen zwei nahezu gleich großen Lagern, die sich (davor wie danach) kontrovers gegenüberstehen.
In Deutschland war gleichzeitig das wirtschaftliche Wachstum schon lange nicht mehr so positiv, ebenso wie die Lebenssituation vieler Menschen. Nichtsdestoweniger gibt es aber auch hierzulande die Angst vor dem sozialen Abstieg, und ebenso gibt es eine nicht geringe Zahl von Menschen, deren ökonomisch-private Situation dauerhaft nicht aussichtsreich ist.
In diesen Widersprüchen, Kontroversen und Umbrüchen findet unsere Gegenwart statt, und entsprechend auch unser Theater. Wir wollen versuchen, diese Gegenwart mit unserem Theater zu diskutieren.
Und das nicht nur in unseren Inszenierungen und Projekten – zu Schwerpunktthemen der Spielzeit werden wir die so erfolgreich etablierte Reihe unserer Expertengespräche fortsetzen: Prof. Heinz Bude, der Publizist Willi Winkler und Prof. Karl Schlögel sind die ersten Gäste, die wir am Schauspiel Leipzig begrüßen.

Wie widersprüchlich sich die Gegenwart konkret in der Stadt Leipzig darstellt, thematisiert das Projekt „Gewonnene Illusionen“, das die Realitäten und Illusionen, die Aufschwünge und Brüche, die Gewinner und Verlierer des Leipzig-Hypes befragt.
Kasimir und Karoline“ ist auch 85 Jahre nach der Leipziger Uraufführung immer noch ein Modellstück, sich mit den Folgen von Aufstiegswillen und Abstiegsängsten auseinanderzusetzen. „Und die Liebe höret nimmer auf“, setzte Horváth als Stückmotto – und als Widerspruch zum Handeln seiner Figuren.
Auch Moritz Schreber ist eine widersprüchliche Persönlichkeit — so wurden ihm zu Ehren die Schrebergärten benannt, doch in seiner Theorie zur Erziehung zum schönen Menschen kultivierte er ein verstörendes Angstsystem, das auch seine Kinder erfahren haben. Einer seiner Söhne verfasste eine genaue Beschreibung seiner jahrzehntelangen Erkrankung, der psychotischen Zustände und übersinnlichen Erleuchtungen. Diese Gedankenwelten wird Hausregisseur Philipp Preuss in seinem neuen Projekt mit Ibsens „Gespenstern“ verschneiden, in denen exemplarisch die Untiefen einer familiären Verstrickung aus Liebe und Angst kulminieren und die Vergangenheit allgegenwärtig wird. Zugleich setzt sich damit die Reihe der szenischen Doppelbefragungen am Schauspiel Leipzig fort. Nuran David Calis kehrt als Regisseur ans Haus zurück und widmet sich einem der bedeutendsten Filme, die in Deutschland nach 1945 entstanden: „Angst essen Seele auf“, Rainer Werner Fassbinders sprichwörtlich gewordenem Drama um die Liebe zweier Menschen, die die Gesellschaft deswegen plötzlich (beziehungsweise erst recht) zu Außenseitern macht.
Hausregisseurin Claudia Bauer widmet sich dem Prototypen des egomanen Machtmenschen und inszeniert Alfred Jarrys immer aktueller werdenden „König Ubu“.

In der Diskothek steht mit der Uraufführung von Enis Macis „Lebendfallen“ ein Text auf dem Spielplan, der das widersprüchliche Leben einer jungen Generation zwischen Zugehörigkeitsgefühl und Distanzerfahrung in unserer Gesellschaft untersucht. Die Uraufführung von Heinz Helles „eigentlich müssten wir tanzen“ prüft in einem fiktiven Katastrophenszenario, was passiert, wenn Angst oder Liebe existentiell werden. Mit „Wolken.Heim“ unternahm Elfriede Jelinek 1988 eine sehr ambivalente Tiefenbohrung in die Jahrhunderte deutscher Geistesgeschichte, die gegenwärtig einen neuen, aktuellen Blick lohnt.

Nach künstlerischen und sozialen Visionen forschen auch die Residenz-Produktionen. Eine Auswahl europäischer Performancekünstler und -künstlerinnen beschäftigt sich mit den Ökonomien unserer sozialen Beziehungen, dem Körper in digitalen Kommunikationssystemen, dem sozialutopischen Potential rhythmischer Tänze. Sie befragen chorisch das Primat des Eigentums und tanzen mit Maschinen. Das Publikum ist eingeladen, in einem räumlich neu gestalteten Ambiente mitzuarbeiten, mitzutanzen, zu diskutieren, zu kritisieren und gemeinsam mit den Gruppen neues Terrain im Theater zu erproben.

Am 12. Februar 2017 äußerte Daniel Cohn-Bendit beim Expertengespräch zum Thema „Das Ende der Gemeinsamkeit“ im Schauspiel Leipzig, dass die politischen Erdbeben der letzten Monate vielleicht auch einen positiven Effekt der Selbstvergewisserung erzeugen und die europäische Idee als zwingender denn je betrachtet werden wird. Entsprechend schloss Daniel Cohn-Bendit mit den Worten: „Lasst uns mutig sein!“

Spielzeitheft 2017/18