Zum Motto

„Was vermeid’ ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehn?“, heißt es in der „Winterreise“, die diese Saison am Schauspiel Leipzig eröffnen soll. In den Tagen aber, in denen dieser Text hier entsteht, ist diese Zeile aus der „Winterreise“ plötzlich keine poetische Frage mehr, sondern ein Gebot. 

„Gefühlte Wirklichkeiten“ steht als Motto über dieser Spielzeit. Vom Herbst an bis in den Februar hinein haben wir sie entwickelt. Fragen haben uns begleitet, über das stetig anwachsende Grundrauschen von gefühlten Empfindungen, über den Widerstreit individualistischer Überzeugungen, die sich immer polarisierender begegnen, über die drängende Suche nach Sinn, über die Wucht, mit der viele sich dabei hinter neuen oder altbekannten Konzepten, Idealen und Forderungen versammeln, und über einen Rückzug ins Private, der andererseits kultiviert wird wie lange nicht mehr.


Aber die Wirklichkeit ist kompliziert. Und sie ändert sich. Die unmittelbare Wirklichkeit beim Schreiben dieser Zeilen wird bestimmt von Worten, die bislang klangen wie aus einer anderen Wirklichkeit: Allgemeinverfügungen, Kontaktverbote und Shutdowns. Diese Begriffe werfen uns zurück auf sehr eigene Wirklichkeiten, wie sie vereinzelter nicht sein können: die scharf umrissenen Wirklichkeiten der eigenen vier Wände, die neue Realität eines sozialen Lebens, das plötzlich ein anderes ist. Der Rückzug ins Private ist keine Möglichkeit mehr, sondern Verfügung. Und diese Privatheit ist plötzlich kleiner und enger als gedacht. 
Eine Privatheit, deren mitunter sehr individualistische Konzepte und Lebensweisen nun Fragen aufwerfen, an die niemand mehr dachte in der Wirklichkeit, wie sie bis Ende Februar 2020 galt. Nicht diejenigen, die in Sachsen nun allein spazieren, und nicht wir alle, denen beim Osterspaziergang ein Begegnen oder gar ein schönes Verweilen nur mit Abstand möglich ist. 

Denjenigen, denen in ihrer Wohnung niemand begegnet, stehen diejenigen gegenüber, die sich dort nicht mehr aus dem Weg gehen können. Nicht zu vergessen diejenigen, für die sich auch diese Fragen so nicht stellen, angesichts eines Lebens auf der Straße oder einer jüngst erfolgten Migration aus anderen Ländern, in Ermangelung einer eigenen Wohnung oder eines lang erworbenen sozialen Umfelds. Lebensbedingungen, die nun noch weiter aus der Sichtbarkeit rutschen.

Gesellschaftliche Verständigung über das Geschehen kann kaum stattfinden, das ist eine prägende Erfahrung dieser Wochen. Sie kanalisiert sich höchstens in den Statements und Gegenstatements der sozialen Medien, deren Grundrauschen weiter steigt. Austausch oder öffentliche gesellschaftliche Diskussion, in einer Weise, wie man es bisher gewohnt war, ist ausgebremst. Gefühle und Emotionen entstehen und stauen sich in dieser Zeit eng begrenzter Privatheit wie unter einem Brennglas.

Es gilt mit der Erfahrung umzugehen, dass elementare Grundrechte ausgesetzt werden für ein gesamtgesellschaftliches Ziel. Aber wer hätte geahnt, dass in Sachsen einmal die Schulpflicht ausgesetzt werden würde? Und wer hätte gedacht, dass Religionsausübung eingeschränkt wird, dass Versammlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit hierzulande einmal nicht gelten würden? Die gefühlte Wirklichkeit, dass diese Freiheiten selbstverständlich sind, ist erschüttert. Wie werden wir uns, wie wird sich Gesellschaft nach dem Einschnitt wiederbegegnen? Was machen wir mit unseren Erfahrungen dieser Zeit? Was machen die Erfahrungen dieser Zeit mit uns? Und wie bewerten wir diese Wochen?

Nachhaltig erschüttert wird in diesen Tagen auch die ökonomische Basis der Gesellschaft und sehr vieler Lebensentwürfe in ihr. Die Wirklichkeit des Frühjahrs 2020 wird mehr und mehr von drängenden Fragen an die wirtschaftliche Zukunft und Struktur dieser Gesellschaft begleitet. Und je länger diese Zeit des Krisen-Modus andauert, desto mehr steht zu ahnen, dass es sich nicht mehr nur um eine Unterbrechung handelt, sondern dass es eine tiefe Zäsur bedeuten dürfte. 

Themen, die ohnehin schon kritisch zu befragen waren, sind nach dieser Zeit noch mal neu zu fokussieren: Was bedeutet Zusammenleben in einer Gesellschaft? Wie viele verschiedene Interessen haben in einer Gesellschaft Platz, wie viele unterschiedliche Bedürfnisse und Lebensentwürfe? Und wie gehen wir mit der Verschiedenheit um?
Wie viele Wirklichkeiten gibt es, und worauf gründen sie? Wie offen sind sie, oder wie begrenzt? Wer nimmt auf wen Rücksicht, wenn die Wirklichkeiten auseinanderdriften? Wie gehen wir weiter um mit einer großen Vielstimmigkeit der Ansichten, mit möglicherweise völlig gegensätzlichen Bewertungen, Auffassungen, Urteilen?
Diese Fragen werden sich sicher auf eine Art neu stellen. Aber stellen werden sie sich auch weiterhin, auch nach diesem Einschnitt, dem wir jetzt — im Frühjahr 2020 — begegnen. Und möglicherweise steht über einige dieser Themen und Fragen mehr als je zuvor eine gesellschaftliche Verständigung an.

Die Auseinandersetzung mit und um verschiedenste Wirklichkeiten, sie wird unsere Theaterarbeit bestimmen. Mit Stoffen und mit Stücken, die sich mit subjektiven Welten auseinandersetzen, wie eng oder wie weit sie auch gehen mögen, mit Fragen und mit Diskussionen. Dass sich der Blick auch auf Bekanntes dabei verändern wird, dass sich neue Perspektiven ergeben, erweist sich bereits am Text der „Winterreise“.
Wir freuen uns, auch in dieser Saison am Schauspiel Leipzig die Expertengespräche mit Jens Bisky von der Süddeutschen Zeitung fortsetzen zu können. Sei es, dass wir in den Blick nehmen, was diese Zeit des Frühjahrs 2020 in der Folge für unsere Gesellschaft bedeutet, oder wir in den Gesprächen bestimmte Inszenierungen weiter vertiefen — die konkreten Veranstaltungen, Beteiligten und Themen hierzu werden wir später veröffentlichen.