Zum Motto

Diese Zeilen entstehen im letzten Drittel einer Saison, die sicherlich die außergewöhnlichste seit langer Zeit war. In einem Jahr, das für sehr viele Menschen überall eine enorme Umstellung bedeutete und einen tiefen Einschnitt.
Nach der Saison-Eröffnung am 25. September 2020 ruhte unser Spielbetrieb seit dem 2. November. Dass das bis zu dem Tag Ende April anhält, an dem dieser Text entsteht, war damals nicht abzusehen. Noch nie haben wir so intensiv über Spielpläne und Möglichkeiten nachgedacht, Ansetzungen und Aufführungstermine variiert – und so wenig davon letztlich realisieren können. Und je vernetzter oder je länderübergreifender ein Projekt, desto herausfordernder.
Aber: Mit diesen Erfahrungen ist das Theater nur ein Teil einer Gesellschaft und einer Welt, für die das allgemein galt. Diese Erfahrung der Ungewissheit und Stille gilt genauso für viele Branchen und für weite Teile der Gesellschaft in einer Zeit und angesichts einer (weltweiten) Lage, wie es sie so lange nicht gab.

Mit der letzten Vorstellung im November entschieden wir, den Fokus unserer Arbeit auf die Weiterführung des Spielbetriebs zu konzentrieren. Wir haben die geplanten Produktionen so weit wie möglich erarbeitet, um sie premierenfähig zu haben. Auf diese Weise konnten wir viele Inszenierungen vorbereiten, die wir Ihnen nun möglichst bald zeigen wollen: die Uraufführung von Katja Brunners „DIE KUNST DER WUNDE“, das „La Bohème“-Projekt von Anna-Sophie Mahler und Anne Jelena Schulte, oder Philipp Preuss’ Kafka-Abend „Das Schloss“, um nur einige Produktionen zu nennen, die wir Ihnen auch in den Fotostrecken dieses Heftes schon vorstellen. Wann genau wir diese Inszenierungen zeigen können, ist aktuell weiterhin unklar – so dass wir auch dieses Jahresheft ohne konkrete Spieldaten der einzelnen Stücke veröffentlichen. So bald wie möglich werden wir aber die Termine auf unserer Webseite bekannt geben.
Ein weiterer Teil unserer Probenarbeit bestand darin, unsere Repertoire-Stücke auf die Abstandsregeln anzupassen, die natürlich auch bei uns auf der Bühne gelten. Und nachdem mit „k.“ bereits im Mai 2020 hier am Haus eins der ersten digitalen Theater-Formate der Corona-Zeit entstand, gibt es mit der Uraufführung von Lukas Rietzschels „Widerstand“, Eidin Jalalis Solo „Die Leiden des jungen Azzlack“ und „The Shape of Trouble to Come“ von der Gruppe FARN. collective um Sandra Hüller weitere Produktionen, die wir hybrid erarbeitet haben – für Bühne und digitalen Raum, oder auch ausschließlich digital.

Was wir sicher wissen nach all diesen Monaten: Wir freuen uns auf Sie, wir brauchen Sie, wir vermissen Sie! Wir vermissen nicht nur die Aufführungen, sondern auch all das, was uns am Schauspiel Leipzig elementarer Teil unserer Theater-Arbeit war und bleiben soll: die Diskussionen, Nachgespräche, Begleitveranstaltungen. Sobald es die Lage zulässt, werden diese Formate neu starten. (Nicht nur) Theater basiert auf dem Live-Moment, auf der Begegnung und dem direkten Austausch mit Ihnen, dem Publikum.
Und so haben wir uns sehr bewusst entschieden, auch die Saison 2021 / 22 unter ein Motto zu fassen und mit diesem Heft wiederum ein Jahresheft vorzulegen, das Ihnen unsere Vorhaben, Ideen und Inhalte vorstellt.

„Und was bedeutet das jetzt für mich“, lautet das Motto dieser Saison. Nicht als Frage gezeichnet und nicht als Ausruf, sondern als offene Formulierung, als Basis zur weiteren Erkundung. Als Formulierung für eine Überforderung, eine Sorge, einen Stresstest, einen Egoismus, eine Konkurrenz, eine Zukunftsvision.
Sich zu orientieren im Geflecht der Gesellschaft, ist eine Aufgabe, vor der wir alle stehen. Dieses Geflecht zu sortieren und zu durchsteigen, ist schon immer Herausforderung gewesen. Ein Geflecht auch an Meinungen, Positionen, Anforderungen, Diskussionen und Diskursen. Dass sich dieses in steigender Dynamik beschleunigt, scheint seit jeher menschliches Empfinden zu sein – nun tritt der mediale Raum hinzu, nicht zuletzt der Raum der sozialen Medien, in denen die Aussagen und Positionen in Echtzeit überschrieben werden, weitergeführt, konterkariert, kritisiert.

In dieser Dynamik selber stattfinden und auch gehört werden zu wollen, ist wiederum Futter dafür, dieser Dynamik eine Stufe hinzuzufügen. Aber wie werde ich da überhaupt wahrgenommen? Wie viel bin ich, wie viel ist meine Meinung wert? Und woran ermisst sich das? Und wo wir gerade dabei sind: Welche Reaktionen hat meine Insta-Story denn nun schon bekommen? Und was wird grad bei Twitter gepostet?
In den vergangenen Monaten der Pandemie sind der Live-Ticker und der News-Flash feste Bestandteile der Nachrichtenkanäle geworden, nicht als Ausnahme, sondern als ständiges Element, das neben die üblichen Nachrichten tritt und diese noch in den Schatten stellt. Und die erste frühe Nachricht im Ticker ist am Abend als Sediment weit abgesunken, überlagert von dem, was die Kanäle noch angespült haben im Laufe des Tages, an Aussagen, Momentaufnahmen, Meinungen, Splittern. Was fangen wir mit all diesem Input an? Welche Filter fehlen uns, welche Filterblasen umfangen uns?
Dass aus all solchen Dynamiken nicht immer Gemeinschaft entsteht oder Erkenntnis, Anerkennung oder Information, sondern auch Einsamkeit oder Überforderung, war schon vor der Corona-Pandemie deutlich, hat sich aber in den zurückliegenden Monaten noch weiter verstärkt, in denen sozial-mediales Leben weiter an Raum gewonnen hat in Ersatz für reale Begegnungen. Die Frage, wo der eigene Platz im Leben ist, wird dadurch nicht einfacher zu beantworten.

Die Monate der Pandemie haben zudem etwas gezeigt, was die jüngsten Generationen so noch überhaupt nicht erfahren hatten: dass eine ganze Gesellschaft, dass die Welt sich in einer Situation wiederfand, in der viele Eckpunkte des Alltags unklar waren, Ansagen nach Tagen wieder zerfielen, Aussagen überholt wurden von neuen Erkenntnissen, Entscheidungen getroffen wurden, ohne dass sie weiter vorbereitet werden konnten. Für nicht wenige Bereiche war die Frage, was das jetzt bedeutet, immer wieder erst abzuklären, zu ermitteln, in weiteren Schritten zu erfragen und abzustimmen. Unklarheit auszuhalten und Planbarkeit hintanzustellen wurde zum Dauer-Stresstest für den modernen durchgetakteten Menschen.
Die Frage nach dem Platz im Leben gilt aber auch unser aller Zukunft, dem Zustand der Umwelt und der Frage, welche Entscheidungen es dafür braucht – und was sie für uns alle bedeuten. „Und was bedeutet das jetzt für mich“, das kann auch die Frage sein nach Utopien und Idealen, die es braucht, um Gegenwärtiges zu verändern.

Die Saison 2021 / 22 am Schauspiel Leipzig bestimmen Fortsetzungen von Arbeitsbeziehungen, in der Regie etwa mit Claudia Bauer, die Günter Grass’ „Rättin“ inszeniert, und Anna-Sophie Mahler, die nun als Hausregisseurin kontinuierlich mit dem Schauspiel Leipzig verbunden ist und sich dem „Undine“-Stoff widmet, Pia Richter, Thirza Bruncken oder Katrin Plötner. Thomas Köck, als Autor mehrfach am Haus zu erleben, schreibt mit „Vendetta Vendetta“ ein Auftragswerk – und wird dies auch erstmals selbst inszenieren.
Aber auch neue Begegnungen stehen an, etwa mit Elsa-Sophie Jach, die erstmals am Haus inszenieren wird, oder Emre Akal und Kristin Höller, die sich erstmals mit ihren Texten in der Diskothek vorstellen werden. Dort stehen zwei Auftragswerke des Schauspiel Leipzig auf dem Programm sowie zwei Uraufführungen, die in Kooperation mit den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin sowie dem exil-DramatikerInnen-Preis der Wiener Wortstaetten entstehen.
Auch die Residenz setzt die Arbeit fort mit Gruppen und Handschriften, die dort schon zu erleben waren – strukturiert dabei die Arbeit aber auch, als künstlerische Reaktion auf die Corona-Pandemie, erstmals nach Themenschwerpunkten.

Wenn die Corona-Situation sich wieder entspannt haben wird, wird die Welt eine andere sein. Bezogen auf die Welt, aber auch bezogen auf unsere nähere Umwelt – die Stadt Leipzig. Es wird Veränderungen geben, die uns alle betreffen. Was den Wandel für unsere Stadt betrifft, so wollen wir diesen Wandel als Theater der Stadt Leipzig mit besonderer Aufmerksamkeit begleiten: „Pay attention!“ heißt ein Langzeitprojekt, das im kommenden Frühjahr startet und in den Blick nehmen will, welche Folgen und Entwicklungen die vergangenen Monate auf das Leben in der Innenstadt auslösen.

Wir wollen unsere Stadt neu entdecken. Wir wollen der Stadt wieder begegnen – und Ihnen!