Die Maßnahme / Die Perser

von Bertolt Brecht / Hanns Eisler und Aischylos (Deutsch von Durs Grünbein)
//Eingeladen zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen 2017
„Seid gewarnt, so tief fällt, wer
sich zu hoch hinaufschraubt! /
Denn der Hochmut, geht seine
Saat auf, bringt höchste Erträge /
An reiner Verblendung, die man
bald erntet in Tränen.“ (Die Perser)
Der letzte Flecken an der russischen Grenze. Vier Abgesandte der Kommunistischen Partei erscheinen. Doch die Hoffnung trügt, dass sie konkrete Hilfe bringen in Form von Maschinen, Saatgut oder auch nur neuen Anweisungen. Stattdessen bringen sie den Auftrag der Partei, die Revolution in China anzustiften. Dazu soll einer der beiden Grenzposten rekrutiert werden. Der Posten fügt sich dem Wunsch der Partei.
In China ist es immer wieder dieser junge Genosse, der die Instruktionen infrage stellt — und damit das Gelingen des Auftrags gefährdet. Als er sich schließlich nicht mehr unterordnet und Arbeiter zum sofortigen Aufstand anstachelt, exekutieren ihn die Anderen in einer Kalkgrube. Der junge Genosse stimmt dieser Maßnahme zu. Als er die Maske abnimmt, die sich die Agitatoren zu ihrem Schutz während der Mission aufgesetzt hatten, hat er plötzlich ein Gesicht ...

Während die Agitatoren in der „Maßnahme“ sich namenlos machen im Dienst der „Sache“, wie der Text es nennt, sind es die vielen namentlich benannten Toten, die das Leid der „Perser“ fassbar werden lassen. Im Plan, Athen zu unterwerfen, geht das persische Heer in der Seeschlacht von Salamis in einer vernichtenden Niederlage wortwörtlich unter. Obwohl zahlenmäßig weit unterlegen, siegt Athen. Die persische Vormachtstellung existiert danach nicht mehr, genauso wenig wie das persische Heer. Wer gewartet hat auf seine Söhne, Brüder, Ehemänner, Väter, der wird sie niemals wiedersehen. Übrig bleiben der Chor der Alten, die Königinmutter Atossa, der König Xerxes, der schließlich traumatisiert und in Fetzen zurückkehrt — und der Bote, der das Unfassbare dieser Schlacht in Worte und Namen fasst, die man nicht mehr vergisst.

„Die Maßnahme“ zählt zu den sogenannten Lehrstücken Bertolt Brechts und gilt darin als deren Hauptwerk. Gleichermaßen angelehnt an die Auseinandersetzungen des chinesischen Bürgerkriegs Ende der zwanziger Jahre und inspiriert von einer alten japanischen Fabel, suchten Brecht und sein Umkreis in „Die Maßnahme“ wie in den übrigen Lehrstücken auch nach Wegen einer theatral-theoretischen Vermittlung und Aneignung ihrer politischen Weltanschauung.
Nicht zuletzt durch die Kompositionen des gebürtigen Leipzigers Hanns Eisler bewegt sich „Die Maßnahme“ nah am Oratorium. Geprägt wird sie durch den großen sogenannten „Kontrollchor“, der die Agitatoren zu der Tötung befragt — und sie entschuldet. Zur Uraufführung 1930 ein enormer Erfolg, wurde „Die Maßnahme“ nurmehr selten aufgeführt, nachdem Brecht sie unter dem Eindruck der stalinistischen Schauprozesse lange Zeit selbst gesperrt hatte.
Aischylos’ „Die Perser“ aus dem Jahre 472 v. Chr. gilt derzeit als das älteste erhaltene Drama der Menschheit und als Beginn des europäischen Theaters. Acht Jahre nach der Schlacht von Salamis verfasst, ist der Text zutiefst geprägt von dieser bis dato größten militärischen Auseinandersetzung der Antike. „Die Perser“ sind damit eines der sehr wenigen griechischen Dramen, das ein reales Ereignis behandelt – allerdings das einzige dieser Kategorie, das uns vollständig überliefert ist. Aischylos, der an der Schlacht von Salamis selbst teilgenommen hatte, erzählt von der Hybris des Xerxes und vom Eroberungswillen der Perser. Aber er erzählt seinem Athener Publikum auch davon, was der eigene Sieg für den geschlagenen Gegner bedeutete.

Mit diesem Vorhaben setzt das Schauspiel Leipzig seinen dramaturgischen Weg der Doppelbefragung fort. Nach „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“, mit denen das Schauspiel Leipzig die europäische Flüchtlingsthematik in den Spiegel zweier sehr verschiedener Texte und Epochen gestellt hat, sind es nun zwei Texte, die an Wendepunkten der Geschichte markant und sehr verschieden die Frage nach der Wirkung von politischen Ideen und dem Bewusstsein individuellen Leids entwickeln — im Spannungsfeld zwischen Humanismus und Ideologie, dem Wert einer Idee und dem Wert des Individuums.
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Pressestimmen

KULTURA EXTRA
„Es geht also immer auch um die Manipulierbarkeit des Einzelnen in der großen Masse für eine bestimmte politische Idee. Das besitzt mit Sicherheit auch heute noch seine Gültigkeit. Und so kann man sich auch schwer der Wirkung beider Stücke entziehen. […] Die zunächst gezeigte Maßnahme wirkt dabei fast schon wie eine bombastische Rekonstruktion mit modernen Theatermitteln. Brecht’scher Verfremdungseffekt, wohin man schaut.“
Westfälischer Anzeiger
„Ein spektakulärer Theaterabend.“
Deutschlandfunk
„Lübbe entwickelt wohl orchestrierte Bilder, die gerade durch ihre stilistische und zurückgenommene Konsequenz eine große Wucht entfalten. [...] Ein bildstarker und handwerklich gut gearbeiteter Abend, der viele Gedanken ermöglicht.“
F.A.Z
Irene Bazinger, 3.4.17, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Eine „atmosphärisch packende, diskursiv eindrucksvolle Inszenierung. […] Die zeitlich so weit voneinander entfernten Dramen korrespondieren in dieser schönen wie intelligenten Aufführung aufregend miteinander und mit uns, sie geben keine Ruhe und kein Pardon. Fast erlösen „Die Perser“ die verpönte „Maßnahme“. Man muss viel Vertrauen zum Theater und zur Welt haben, um von solchen historischen Balancen zu träumen. Enrico Lübbe hat es, und seine beherzt aufrechte und sinnlich vergeistigte Inszenierung ist dafür ein wahrhaftiges Plädoyer.“
junge Welt
„So tut sich noch eine andere Möglichkeit des Verständnisses dieses ausgesprochen klugen Doppelabends auf: Mit dem Kommentar der »Perser« zur »Maßnahme« wird auch die Hybris einer Gegenwart kritisiert, die sich der dringenden und grundsätzlichen Änderung der Welt schon entzogen wähnt.“
Leipziger Internet Zeitung
Ein „monumentales Bühnenbild und ein imposanter Gesangschor. [...] Die sakral aufgeladene Atmosphäre vereinnahmt die Zuschauer.“
Leipzigs Neue Seiten
„Selbstbewusst und stark wird Moderne mit Tradition verbunden. Die Summe beider Teile des Abends ergeben dank der Kraft der Worte, des Spiels, der Musik, der Skulptur, der bewegten Bilder, der Architektur und der Rauminstallation eine Symbiose der Künste. Kurz gesagt: Ein Gesamtkunstwerk!“
LVZ
„Regisseur Enrico Lübbe gelingt es durch die voluminöse Kraft des Chores und das räumliche Arrangement, genau dieses Moment sicht- und spürbar zu machen: Die Auflösung des Individuums, das nur noch als Träger der großen Idee einen Wert besitzt. […] Das ist präzise abgestimmtes Spiel, und die Wucht der Masse wird erlebbar, ebenso die Schwierigkeit, sich ihr zu entziehen.“
MDR Kultur
„Ein ganz hervorragender 50-stimmiger Laienchor und die Musik klang ganz hervorragend. [Der Perser-Chor,] der auch sensationell präpariert ist, ganz genau artikuliert, einen präzisen Rhythmus draufhat. [...] Harmonie und Rhythmus als Kollektiv, Disharmonie als Prozess der Individualisierung und Emanzipierung. [...] Enrico Lübbe erfindet zu seiner Musik ganz starke Klangbilder. Ein Regisseur, der sich offenkundig Einar Schleef und Robert Wilson zum Vorbild nimmt. [...] Ein sehr ästhetisch anmutender Abend, sehr konzentriert in den Bildern.“
nachtkritik.de
„Die Inszenierung schlägt mit einer Wucht ein und hängt unter herausragendem handwerklichen und personellen Aufwand, so pur und werkgetreu und doch modern und zeitgemäß, gleich zwei Theaterklassiker aneinander.“
neues deutschland
„Hämmernder Text. Pathos und Präsenz. Lübbe bietet ein imposantes, kühl ergreifendes Theater der konzentrierten Askese, in dem der Mensch jäh und in überaus scharfen Umrissen vor sich selbst hingestellt wird - eben auch als tragisch unbelehrbarer Zuarbeiter für ein mechanisches Massendasein.“
Recklinghäuser Zeitung
„Ein starker Abend über historische Verblendung und mangelnde Einsicht, über die Verantwortung jedes Einzelnen, über versäumte Reue und verfehlte Umkehr.“
Premiere am 30. März 2017

Spieldauer

ca. 2 Stunden, keine Pause

Besetzung

Wenzel Banneyer als Atossa (Die Perser)
Thomas Braungardt, Anna Keil, Tilo Krügel, Dirk Lange als Agitator (Die Maßnahme)
Michael Pempelforth als Dareios (Die Perser)
Felix Axel Preißler als Bote / Xerxes (Die Perser)
Hannelore Schubert als Chorführer (Die Perser)

Team

Musikalische Leitung: Francesco Greco
Orchester: Mitglieder des Gewandhausorchesters und Gäste
Kostüme: Bianca Deigner
Choreographie: Stefan Haufe
Video: fettFilm
Einstudierung der Chöre: Marcus Crome
Korrepetitorin: Aska Carmen Saito
Licht: Ralf Riechert
Ton: Alexander Nemitz

Trailer

Eine Koproduktion des Schauspiel Leipzig mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Kooperation mit dem Gewandhaus zu Leipzig

Expertengespräche zu „Die Maßnahme / Die Perser“

In einer Reihe von Vorträgen und Gesprächen hat das Schauspiel Leipzig in der Spielzeit 2017/18 Hintergründe, Voraussetzungen und Nachwirkungen von Brecht / Eislers „Die Maßnahme“ näher beleuchtet. Was war das Denken der Kommunistischen Avantgarde in den 1920er und 30er Jahren? Worauf basierte dieses Denken? Welche Nachwirkungen der „Maßnahme“ lassen sich feststellen? mehr lesen
Diese Veranstaltungen sind nachzulesen im Band „Ist der Osten anders?“, der im April 2019 erschienen ist im Verlag Theater der Zeit Berlin als zweiter Band der Dokumentation der spielplanbegleitenden Expertengespräche am Schauspiel Leipzig.

Mitschnitt der Produktion

Eine DVD der Produktion „Die Maßnahme / Die Perser“ ist in der Belvedere Edition / Die Theateredition im Januar 2019 erschienen. zum Webshop

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Weiterführende inhaltliche Informationen und Impulse zur Inszenierung sowie Interviews mit Mitgliedern des Gesangschores finden Sie hier.