Zum Motto

WIR-GESÄNGE

Das ist das Motto, mit dem wir in diese Spielzeit gehen. Was macht uns als Gesellschaft aus? Auf welchen Geschichten basieren wir? Welche Erzählungen machen uns heute aus, welche Echoräume und Diskussionen beeinflussen uns? Was müssen wir manchmal aushalten oder was sollten wir diskutieren, wenn ‚Wir‘ uns begegnen? Natürlich geht es auch um Gesang, um Musik, aber vor allem soll es um Fragen nach dem ‚Wir‘ gehen bei diesem Motto, das mit dieser Spielzeit nicht enden wird.

Diese Fragen sollen weiter gefasst sein: Sie gelten Vergangenheiten genauso wie Gegenwarten, als eine Suche nach Ursprüngen und Bezügen, eine Suche nach neuen Fragen und bekannten Erzählungen, nach Aushandlungen und Konflikten, Widersprüchen und Sehnsüchten. Wir-Gesänge beinhalten dabei natürlich auch Gesang im Sinne von Musik, etwa in der Produktion „Was ihr wollt“, in der wir Shakespeare der Musik von Taylor Swift begegnen lassen, oder in der Eröffnung der Residenz mit dem ChorAlle und „Sound of Us“.

‚Gesang‘ bezeichnet in der klassischen Literatur aber auch ‚einen kleinen Abschnitt der großen Erzählung‘ — und das beschreibt recht gut, was Theater immer wieder ermöglicht: einen fokussierten künstlerischen Blick zu setzen auf ein bestimmtes Thema, einen Konflikt, eine Fragestellung, die die Gesellschaft beschäftigt — sei es seit Kurzem oder seit Jahrhunderten. Dabei kann Theater mit seinem spezifischen Blick, mit seiner Kunstform Altes und Neues in einen Kontext bringen und miteinander verbinden — oder kann erneut befragen, was früher schon Antworten gab. Vielleicht werden dabei Differenzen sichtbar, vielleicht Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten, vielleicht neue Fragen an das alte Werk.

In diesem Sinne koppelt Regisseurin Pia Richter auf der Großen Bühne Shakespeare mit Taylor Swift zusammen, inszeniert Nuran David Calis Schillers „Jungfrau von Orleans“ und erarbeitet Thomas Köck für das Schauspiel Leipzig ein Auftragswerk unter dem Titel „deutsche märchen“ und begibt sich auf eine Spurensuche in die Welt deutscher Mythen und Märchen, inszeniert von Elsa-Sophie Jach. Auch Stoffe wie „Woyzeck“ und „Richard III“, „Romeo und Julia“ oder Kleists „Zerbrochner Krug“ sind nicht nur große Klassiker, sondern stellen Echoräume bereit für die Gegenwart: In ihnen hallen die Gesänge der Vergangenheit nicht nur nach — sondern sind gar nicht vergangen oder gealtert: „Richard III“ erzählt von Machtpolitik, von Wegschauen und Mitmachen in einer Weise, in der die Strukturen und Dynamiken der Gegenwart sichtbar werden. Heinrich von Kleist erzählt im „Krug“ zu einem ganz anderen Thema von einem unerhörten Wegschauen der Gesellschaft, wie es immer noch passiert — mit einem Fokus auf die besondere Eigenschaft der Sprache, zugleich verdecken und aufdecken zu können.

In seinem „Girschkarten“, der als Auftragswerk des Schauspiel Leipzig entstand, setzt Lukas Rietzschel, auf der Folie des „Kirschgartens“ von Anton Tschechow, eine sehr heutige Familie in ihren ererbten Garten. Es geht, ähnlich wie bei Tschechow, um die große Sehnsucht nach dem Vergangenen angesichts der Unsicherheiten der Gegenwart. Es geht aber auch ums herausfordernde Aushalten des ‚Wir‘ — und um manche Abbiegungen, auf denen sich, vor längerer Zeit oder auch erst jüngst, die Familie voneinander entfernt hat.

Das Aushalten des ‚Wir‘ als einer Gesellschaft, die sich in ihren Individualitäten, Interessen und Gegensätzen immer wieder neu begegnet und sich miteinander aushandeln muss, ist dabei wiederkehrendes Thema in den Stücken unseres Diskothek-Spielplans, so etwa bei Sivan Ben Yishais „Liebe / Eine argumentative Übung“.

Doris Uhlich, die mit ihren Arbeiten den Spielplan der Residenz herausragend geprägt hat, schaut mit „GAP“ auf eine der zentralen Fragen der Gegenwart: auf die Frage nach bezahlbarem Wohnraum — und sie nimmt diese Frage in den Blick zusammen auch mit denen, die keinen Wohnraum haben.

„Bu sözler bizim — Die Worte gehören uns“ von Yade Yasemin Önder in der Diskothek erzählt auf zugleich sehr theatrale und poetische Weise, wie das Abwesende und die Vergangenheit das ‚Wir‘ einer Familie bestimmen können. Mit seiner Zweisprachigkeit, deutsch und türkisch, erzählt das Stück auf sehr selbstverständliche Weise einen Aspekt der Vielfalt des Zusammenlebens in unserer Gegenwart. Das gilt auch für Raphaela Bardutzkys „Altbau in zentraler Lage“, das zugleich in deutscher Laut- und in Deutscher Gebärdensprache auf die Bühne kommt — ebenso wie „fünf minuten stille“ von Leo Meier.

Ein ‚Wir‘ ist eben nicht allein — und so entstehen nicht wenige Produktionen und Projekte auch dieser Spielzeit wieder in Kooperationen: Das Stadtgeschichtliche Museum bietet weiterhin seinen „Woyzeck“-Rundgang an im Umfeld unserer Inszenierung, „Bu sözler bizim — Die Worte gehören uns“ entsteht in Kooperation mit den WIENER WORTSTAETTEN, und das Festival „4+1“ bringt im Juni 2026 noch einmal die Themen und Stimmen des dramatischen Nachwuchses der deutschsprachigen Schreibschulen in Leipzig zusammen — vorgestellt in Lesungen mit dem Ensemble, Diskussionen mit Ihnen, dem Publikum, und eingebettet in das Repertoire an Gegenwartsdramatik der Diskothek, wie es in dieser Dichte so in der deutschsprachigen Theaterlandschaft nach wie vor selten ist. Die Programmatik der Spielstätte Residenz basiert allein auf Kooperationen, neuen und auch lang etablierten, mit der Freien Szene Leipzigs, Deutschlands und Europas.

Die „Wir-Gesänge“ werden über die Spielzeit 2025 / 26 hinaus fortdauern und auch das Motto geben für die folgende Saison, mit der dann die Intendanz von Enrico Lübbe und seinem Team am Schauspiel Leipzig endet: Zur Eröffnung der Saison 2026 / 27 steht noch einmal ein großes Stück der Antike auf dem Plan — noch einmal auch mit einem großen Chor aus Menschen der Leipziger Stadtgesellschaft.
Was macht das ‚Wir‘ aus? Was macht uns alle aus, was bedingt uns, was beschäftigt uns als Gesellschaft? Wir hoffen, Sie haben Lust und Interesse, diesen Gedanken gemeinsam mit uns die kommenden beiden Spielzeiten nachzugehen am Schauspiel Leipzig. Dazu laden wir Sie herzlich ein.