Zum aktuellen Motto

Auch diese vor uns liegende Saison möchten wir, wie die vergangenen Spielzeiten, unter ein Motto stellen: ICH ICH ICH ICH ICH.
Bemerkenswert war, wie in letzter Zeit Haltungen des Individualismus immer bedeutsamer wurden. Wenig war so zugkräftig wie die Betonung individueller Interessen — auf privater oder gesellschaftlicher Ebene, aber auch in der politischen Diskussion.

Dort haben und hatten Theorien, die der Abschottung gelten und dem Stellenwert national fokussierter Interessen, Konjunktur. Ob nun wirtschaftlich oder gesellschaftlich gemeint, versprechen diese Positionen jeweils Besserung der verschiedensten Problemlagen, indem man ‚sich wieder auf sich allein konzentriert‘. Immer wieder wird ein Bild gepflegt, in dem das ‚Andere‘ zu einer Konkurrenz geworden ist. Als Gegenstrategie wird ein Entwurf gesetzt, der im Ideal einer gewissermaßen nationalen Autarkie die Lösung behauptet.

Solche politischen Strategien führen fort, was als Tendenz auf gesellschaftlicher Ebene zu erleben ist: Immer wieder begegnet das Absolutsetzen der eigenen Überzeugungen, begleitet vom Abqualifizieren anderer Ansichten. Es ist schwieriger geworden, in der Gesellschaft eine gemeinsame Basis der Verständigung zu finden. Allgemein verbindliche Fakten oder Sachlagen werden in Frage gestellt oder gleich bestritten. Stattdessen stehen ungezählte gefühlte Wahrheiten und alternative Wirklichkeiten hart nebeneinander. Diese Polarisierung der Meinungen führt zu einer fortschreitenden Aufsplitterung der Gesellschaft. Nicht nur mit Blick auf das Klima des Miteinanders und die Möglichkeiten politischer oder gesellschaftlicher Debatten, sondern auch mit Blick auf Lebenswelten und Lebensgestaltungen.
Der ökonomische Wettbewerb geht über in den Wettbewerb der Persönlichkeiten: Der Fokus auf Individualität erreicht neue Höhen, wenn Selbstverwirklichung weniger als Möglichkeit aufgefasst wird, sondern als unbedingter Wettkampf. Der globalisierte Markt der Möglichkeiten ist vierundzwanzig Stunden geöffnet – mit Folgen für alle Beteiligten. Frust ist ein großer Begleiter der Gegenwart geworden, ganz zu Schweigen von der Erfahrung des realen Scheiterns in einer Gesellschaft, in der Scheitern nicht mehr vorgesehen ist.

Vor dem Hintergrund solcher gesellschaftlichen und politischen Phänomene, der Tendenzen zur Aufspaltung in aufgesplitterte Überzeugungen und parallele Erfahrungswelten, ist Theater einer der Orte, an denen sich die Gesellschaft in ihrer Vielheit und Vielfalt begegnet und wahrnehmen kann. Und einer der Orte, in denen diskutiert und debattiert werden kann. So werden wir auch in der Saison 2018/19 am Schauspiel Leipzig die spielzeitbegleitenden Expertengespräche fortsetzen.

Spielzeitheft 2018/19