Schweigt Stille / Sober up!

Santiago Blaum (Berlin) / Artists in Residence
Johann Sebastian Bach komponierte im Jahr 1734 die Kantate „Schweigt stille, plaudert nicht“ für das Collegium Musicum, ein Ensemble, das im Zimmermannischen Kaffeehaus in Leipzig seinen festen Auftrittsort hatte. Das als Kaffeekantate bekannte Werk erzählt die amüsante „coming of age-Geschichte“ der jungen Liesgen, die süchtig nach Kaffee ist, und die verzweifelten Versuche ihres Vaters Schlendrian, sie vom Kaffeekonsum abzubringen.

Die Kantate zollt dem aufstrebenden Bürgertum Anerkennung, das seine Identität gerade um die vielen neuen Kaffeehäuser in Europa herum formte, aber die Geschichte des Kaffees, der darin eine so zentrale Rolle spielt, bleibt unreflektiert.

In „Schweigt Stille/Sober up!“ konfrontiert der argentinische Komponist und Theatermacher Santiago Blaum dieses kanonische Werk der europäischen "hohen" Kunst mit den konkreten politischen und ökonomischen Bedingungen seiner Produktion. Lieschens Geschichte wird im Laufe des Abends durch verschiedene zeitliche und räumliche Ebenen unterbrochen, die eine Vielzahl von Narrativen eröffnen. Dadurch müssen die Figuren die Stabilität ihrer Rollen in Frage stellen und sind sogar gezwungen, mit unvorhersehbaren Geistern in Dialog zu treten.

Bachs Originalmusik wird erweitert und neu komponiert, nicht nur mit neuem und fremdem Material, sondern auch durch die Kontaminierung der traditionellen Wahrnehmung, die die Organisation der Tonhöhen und die daraus resultierende Harmonie als Hauptstrukturierungsfaktor in der europäischen klassischen Musik betrachtet. Im Gegensatz dazu soll die Verwendung von Wiederholung und rhythmischer und klanglicher Entwicklung als konstruktiver Prozess (der u.a. in der lateinamerikanischen Musik viel zentraler ist) eine unausgesprochene Regel jener Ära brechen, die den Blick passend in die Gegenrichtung zum Körper lenken zu wollen scheint um sich als "Musik für den Geist" zu proklamieren.

Das Bild eines Europas, das durch das wundersame Eingreifen des Kaffees in seine Geschichte plötzlich nüchtern wird und im Fahrwasser der Aufklärung die Betäubung eines jahrhundertelangen Bier- und Weinkonsums abschüttelt, steht in scharfem Kontrast zur Materialität des Kaffees als Kulturpflanze und der in ihn investierten menschlichen Energie sowie zum gleichzeitigen Prozess der Konsolidierung der kolonialen und postkolonialen Weltordnung.



Santiago Blaum wurde in Buenos Aires geboren und studierte dort Literatur, Klavier und Komposition, Operngesang und Theaterimprovisation. Zusammen mit Regisseur Pablo Maritano gründete er die Gruppe Torquato Tasso Beauty Performer (Buenos Aires 2000-2003), bei der er Regie führte und selber spielte. Seit 2004 arbeitet er als Musikalischer Leiter und Komponist in Berlin mit verschiedenen Gruppen u.a mit She She Pop und Constanza Macras/Dorky Park. Seit 2010 leitete er als Regisseur und Komponist mehrere freie Musiktheaterproduktionen, die im HAU und in den Sophiensälen in Berlin uraufgeführt wurden. Seit 2018 tritt er auch mit seinem Musikprojekt Señorita auf, das lateinamerikanische Musik mit experimentellem Elektro-Pop verbindet.

www.santiagoblaum.com
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Pressestimmen

LVZ
„Der Argentinier Santiago Blaum [...] dreht mit „Schweigt Stille / Sober up!“ das ganz große Debatten-Rad.“
Premiere am 25. November 2023
Residenz in der Spinnerei

Team

Inszenierung, Musik, Konzept: Santiago Blaum
Bühne: Jan Brokof
Lichtdesign, Video: Catalina Fernandez
Kostüme: Arturo Lugo
Dramaturgie: Tamara Saphir
Dramaturgische Beratung: José Fernando Peixoto de Azevedo
Recherche: David Magnus
Outside Eye: Tatiana Saphir
Video-Beratung: Benjamin Krieg
Assistenz: Sigourney Pilz
Produktion: Jill Emerson & Till Rothmund

Eine Koproduktion von Santiago Blaum mit Residenz Schauspiel Leipzig, Radialsystem Berlin und FFT Düsseldorf mit Unterstützung des Förderbandes Kulturinitiative Berlin.

Die Realisierung des Projekts wird ermöglicht aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.