Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

Wie in den vergangenen Jahren werden wir auch diese Spielzeit und ihre Themen mit der Gesprächsreihe in Expertengesprächen in der Moderation von Jens Bisky begleiten. Die Gäste und Termine für diese Spielzeit werden später bekannt gegeben.

Rückblick

Unter dem Titel „Wirklichkeiten 23“ diskutierte der Publizist Jens Bisky („Mittelweg 36“ / Hamburger Institut für Sozialforschung) die Kontroversen und Sehnsüchte, die die gegenwärtigen Debatten in der Gesellschaft begleiten.
Von Januar bis März 2023 waren seine Gäste Carolin Amlinger (Universität Basel), die gemeinsam mit Oliver Nachtwey über die Querdenken-Bewegung geforscht hat („Gekränkte Freiheit“), Nils C. Kumkar (Universität Bremen), der sich mit dem Phänomen der „Alternativen Fakten“ in den USA und hierzulande befasst hat, sowie Stephan Lessenich vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Essay „Nicht mehr normal“ sich mit den Hoffnungen auf Normalisierung auseinandergesetzt hat.
Sehnsucht nach Normalität
Stephan Lessenich: Für Europa und auch für Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde rückwirkend die Diagnose des „nervösen Zeitalters“ gestellt. Damals wurden Gewissheiten in Frage gestellt, das bisher Gängige und Gewohnte erschien plötzlich als nicht mehr praktikabel. Bis hin dazu, dass auch Krieg zum Bestandteil des Alltags wurde, oder jedenfalls zum potenziellen Bestandteil.

Solch ein nervöses Zeitalter erleben wir auch gegenwärtig: Es gibt eine untergründige Ahnung davon, dass sich die Dinge so nicht werden halten lassen, dass sie nicht fortgeschrieben werden können. Aber gleichzeitig gibt es den existenziellen Wunsch, dass es doch möglich sein möge, dass man die Verhältnisse doch in die Zukunft verlängert wissen möchte.
Es gibt eine innere Zerrissenheit zwischen dem Wissen um die Unhaltbarkeit der Dinge und dem intensiven Verlangen, an ihnen festzuhalten. Und diese Verunsicherung scheint mir nicht auf bestimmte Milieus beschränkt zu sein. Es zeigt sich, dass diese Konstellation wirklich tief in die Mitte der Gesellschaft geht: die Erfahrung, dass die Normalitäten bröckeln und brüchig werden.


Sehnsucht nach Selbstverwirklichung
Publikum: Sie haben davon gesprochen, dass es eine Verschiebung gibt zwischen einer alten Mittelschicht, die auf Werte setzt wie Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit, und einer neuen Mittelschicht, die von der 68er-Bewegung inspiriert ist und mehr auf Individualität und Selbstverwirklichung setzt. Für Pegida sind ja die 68er ein großes Feindbild, und die Querdenken-Bewegung wirkt ein bisschen wie die Fortsetzung aus Richtung der 68er. Ist da nicht ein großer Unterschied?

Carolin Amlinger: Tatsächlich haben die meisten Personen, die wir aus der Querdenken-Szene befragt haben, nur wenig mit klassischen Rechtspopulisten gemein. Sie sind vorrangig in sozialen Milieus verortet, die Grundorientierungen von Selbstwirksamkeit, Authentizität oder Selbstbestimmung haben. Werte, die mit den 68ern in die Mitte der Gesellschaft eingewandert sind. Allerdings sind sie nicht mehr zwingend an ein Emanzipationsversprechen rückgebunden. Die Befragten werten eine hedonistische Lebensführung hoch, haben aber auch eine starke Leistungsorientierung und teilweise das Selbstverständnis, zur gesellschaftlichen Elite zu gehören. Wir fanden es deswegen wichtig, die Querdenken-Bewegung vom klassischen Rechtspopulismus abzugrenzen: Das sind nicht die gleichen Leute, die bei Pegida mitmarschiert sind, auch wenn es regional Überschneidungen geben mag.
Was die Personen, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen sind, eint, ist einerseits ein liberales und aufgeklärtes Selbstverständnis und andererseits eine grundlegende Kritik am Staat. Aber die Proteste sind nicht mehr rückgebunden an einen visionären Entwurf, wie Gesellschaft anders sein könnte, wie wir gemeinsam anders leben könnten. Sondern es beschränkt sich oft auf ein absolutes Recht auf Selbstbestimmung, verbunden mit der Pose des reinen Dagegenseins: gegen Staat, Medien und Eliten.


Sehnsucht nach Klarheit
Jens Bisky: Wie geht man vernünftig mit „Alternativen Fakten“ um? Sie wirken wie Blendgranaten, heißt es in Ihrem Buch, sie sollen dazu dienen, Konflikte zu verdrängen.

Nils C. Kumkar: Ein erster Schritt wäre, die Aufregung über diese Idee der „Krise der Wirklichkeit“ runterzukochen. Denn wir haben wahrscheinlich noch nie so sehr in einer miteinander geteilten Wirklichkeit gelebt wie heute.
Vor 100 Jahren habe ich als Winzer in der Mosel-Region definitiv kein Fitzelchen Lebensrealität preußischer Landarbeiter mitbekommen. Und eigentlich ist das lange auch so geblieben, nämlich bis zur massenmedialen Durchdringung der Gesellschaft im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts. Ab dann haben die Leute zwar dieselbe Realität wahrgenommen —wie sie aber im Einzelnen damit umgegangen sind, wissen wir nicht wirklich. Das ändert sich mit dem Aufstieg von Social Media.

Aber die Idee, die Leute würden jetzt, weil sie auf Facebook sind, in Filterbubbles leben, die ist Quatsch in meinen Augen. Die Leute haben immer in Filterbubbles gelebt. Nur: Die Leute haben sich dabei gegenseitig noch nie so sehr wahrgenommen wie jetzt auf Facebook & Co. Und das ist das Problem: Sie beobachten sich jetzt bei sehr unterschiedlichen Lebensweisen und sind deswegen wahnsinnig aufgeregt. Aber keine Wirklichkeit der Welt hat die Bevölkerung je komplett durchdrungen, und das ist auch nicht schlimm.
Aber es ist so viel über das Verhältnis aller zur Wirklichkeit geredet worden, dass über die Wirklichkeit selber kaum gesprochen wurde. Was sind die Probleme, mit denen wir uns nicht beschäftigen, während wir über alternative Fakten sprechen? Worüber man viel, viel offensiver reden muss, sind die Konflikte, vor allem Interessenkonflikte, die genau durch alternative Fakten verdeckt werden.