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Expertengespräche „Wirklichkeiten 23“

in der Spielzeit 2022/23
Unter dem Titel „Wirklichkeiten 23“ diskutierte der Publizist Jens Bisky („Mittelweg 36“ / Hamburger Institut für Sozialforschung) die Kontroversen und Sehnsüchte, die die gegenwärtigen Debatten in der Gesellschaft begleiten.

Von Januar bis März 2023 waren seine Gäste Carolin Amlinger (Universität Basel), die gemeinsam mit Oliver Nachtwey über die Querdenken-Bewegung geforscht hat („Gekränkte Freiheit“), Nils C. Kumkar (Universität Bremen), der sich mit dem Phänomen der „Alternativen Fakten“ in den USA und hierzulande befasst hat, sowie Stephan Lessenich vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Essay „Nicht mehr normal“ sich mit den Hoffnungen auf Normalisierung auseinandergesetzt hat.
Carolin Amlinger (Universität Basel) denkt, gemeinsam mit Oliver Nachtwey, in ihrer Studie „Gekränkte Freiheit“ über die Auswirkungen eines modernen Dranges nach unbeschränkter Selbstverwirklichung nach.
Nicht wenige Stimmen stellen derzeit gesellschaftliche Verabredungen radikal in Frage – als fremdgesetzte Zwänge oder als Routinen, die nicht mehr weiter tragen. Amlinger und Nachtwey entwickeln ihre Untersuchung anhand von Interviews mit u. a. der „Querdenker“-Szene. Dabei begegnen sie immer wieder einer Auffassung der Selbstverwirklichung, die auf einem gewandelten Freiheitsbegriff basiert – und sich mehr und mehr gekränkt und beschränkt fühlt durch gesellschaftliche Übereinkünfte oder politische Regularien. Analysen, die weit über ein bestimmtes Milieu hinausführen in die Mitte der Gegenwart.
Publikum: Sie haben davon gesprochen, dass es eine Verschiebung gibt zwischen einer alten Mittelschicht, die auf Werte setzt wie Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit, und einer neuen Mittelschicht, die von der 68er-Bewegung inspiriert ist und mehr auf Individualität und Selbstverwirklichung setzt. Für Pegida sind ja die 68er ein großes Feindbild, und die Querdenken-Bewegung wirkt ein bisschen wie die Fortsetzung aus Richtung der 68er. Ist da nicht ein großer Unterschied?

Carolin Amlinger: Tatsächlich haben die meisten Personen, die wir aus der Querdenken-Szene befragt haben, nur wenig mit klassischen Rechtspopulisten gemein. Sie sind vorrangig in sozialen Milieus verortet, die Grundorientierungen von Selbstwirksamkeit, Authentizität oder Selbstbestimmung haben. Werte, die mit den 68ern in die Mitte der Gesellschaft eingewandert sind. Allerdings sind sie nicht mehr zwingend an ein Emanzipationsversprechen rückgebunden. Die Befragten werten eine hedonistische Lebensführung hoch, haben aber auch eine starke Leistungsorientierung und teilweise das Selbstverständnis, zur gesellschaftlichen Elite zu gehören. Wir fanden es deswegen wichtig, die Querdenken-Bewegung vom klassischen Rechtspopulismus abzugrenzen: Das sind nicht die gleichen Leute, die bei Pegida mitmarschiert sind, auch wenn es regional Überschneidungen geben mag.
Was die Personen, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen sind, eint, ist einerseits ein liberales und aufgeklärtes Selbstverständnis und andererseits eine grundlegende Kritik am Staat. Aber die Proteste sind nicht mehr rückgebunden an einen visionären Entwurf, wie Gesellschaft anders sein könnte, wie wir gemeinsam anders leben könnten. Sondern es beschränkt sich oft auf ein absolutes Recht auf Selbstbestimmung, verbunden mit der Pose des reinen Dagegenseins: gegen Staat, Medien und Eliten.
In seinem Buch „Alternative Fakten“ begibt sich Nils C. Kumkar (Universität Bremen) auf die Spur, ein viel diskutiertes Phänomen zu fassen zu bekommen. Alternative Fakten begegnen ihm in den großen gesellschaftlichen und politischen Bruchlinien jüngster Zeit. Seine These: Nicht so sehr geht es in den jeweiligen Auseinandersetzungen um Fakten oder Wissenschaft als vielmehr um die Abwehr strittiger Konflikte und politischer Debatten. Es geht weniger um Klärung als vielmehr um Verunklarung.
Jens Bisky: Wie geht man vernünftig mit „Alternativen Fakten“ um? Sie wirken wie Blendgranaten, heißt es in Ihrem Buch, sie sollen dazu dienen, Konflikte zu verdrängen.

Nils C. Kumkar: Ein erster Schritt wäre, die Aufregung über diese Idee der „Krise der Wirklichkeit“ runterzukochen. Denn wir haben wahrscheinlich noch nie so sehr in einer miteinander geteilten Wirklichkeit gelebt wie heute.
Vor 100 Jahren habe ich als Winzer in der Mosel-Region definitiv kein Fitzelchen Lebensrealität preußischer Landarbeiter mitbekommen. Und eigentlich ist das lange auch so geblieben, nämlich bis zur massenmedialen Durchdringung der Gesellschaft im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts. Ab dann haben die Leute zwar dieselbe Realität wahrgenommen —wie sie aber im Einzelnen damit umgegangen sind, wissen wir nicht wirklich. Das ändert sich mit dem Aufstieg von Social Media.

Aber die Idee, die Leute würden jetzt, weil sie auf Facebook sind, in Filterbubbles leben, die ist Quatsch in meinen Augen. Die Leute haben immer in Filterbubbles gelebt. Nur: Die Leute haben sich dabei gegenseitig noch nie so sehr wahrgenommen wie jetzt auf Facebook & Co. Und das ist das Problem: Sie beobachten sich jetzt bei sehr unterschiedlichen Lebensweisen und sind deswegen wahnsinnig aufgeregt. Aber keine Wirklichkeit der Welt hat die Bevölkerung je komplett durchdrungen, und das ist auch nicht schlimm.
Aber es ist so viel über das Verhältnis aller zur Wirklichkeit geredet worden, dass über die Wirklichkeit selber kaum gesprochen wurde. Was sind die Probleme, mit denen wir uns nicht beschäftigen, während wir über alternative Fakten sprechen? Worüber man viel, viel offensiver reden muss, sind die Konflikte, vor allem Interessenkonflikte, die genau durch alternative Fakten verdeckt werden.
Stephan Lessenich, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, blickt in seinem Essay „Nicht mehr normal“ in die Sehnsüchte unserer Gegenwart vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen. Und findet dabei in der Hoffnung auf die Rückkehr der Normalität eher den Blick zurück als den Blick nach vorn. Denn für Lessenich offenbart sich „das Normale typischerweise erst im Nachhinein – durch den Verlust“. Und die neue Normalität, die gilt es auszuhandeln an neuen Gegebenheiten und Notwendigkeiten.
Stephan Lessenich: Für Europa und auch für Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde rückwirkend die Diagnose des „nervösen Zeitalters“ gestellt. Damals wurden Gewissheiten in Frage gestellt, das bisher Gängige und Gewohnte erschien plötzlich als nicht mehr praktikabel. Bis hin dazu, dass auch Krieg zum Bestandteil des Alltags wurde, oder jedenfalls zum potenziellen Bestandteil.

Solch ein nervöses Zeitalter erleben wir auch gegenwärtig: Es gibt eine untergründige Ahnung davon, dass sich die Dinge so nicht werden halten lassen, dass sie nicht fortgeschrieben werden können. Aber gleichzeitig gibt es den existenziellen Wunsch, dass es doch möglich sein möge, dass man die Verhältnisse doch in die Zukunft verlängert wissen möchte.
Es gibt eine innere Zerrissenheit zwischen dem Wissen um die Unhaltbarkeit der Dinge und dem intensiven Verlangen, an ihnen festzuhalten. Und diese Verunsicherung scheint mir nicht auf bestimmte Milieus beschränkt zu sein. Es zeigt sich, dass diese Konstellation wirklich tief in die Mitte der Gesellschaft geht: die Erfahrung, dass die Normalitäten bröckeln und brüchig werden.
25. Januar 2023

Carolin Amlinger

Sehnsucht nach Selbstverwirklichung
20. Februar 2023

Nils C. Kumkar

Sehnsucht nach Klarheit
20. März 2023

Stephan Lessenich

Sehnsucht nach Normalität

PAY ATTENTION!

in der Spielzeit 2020/21
Im Rahmen des Schwerpunkts „PAY ATTENTION! – Eine Langzeitbespielung“ 2022 gab es zwei Gespräche zum System Stadt und dessen Wandel.
Was bedeutet ‚Stadt‘ heute? Was sind die Erwartungen an das Leben in der Stadt? Was sind die Erwartungen an die Stadt, in der man lebt? Und kann eine Stadt das alles erfüllen? Darüber spricht Jens Bisky („Mittelweg 36“) mit Anke Hannemann (Stadt Leipzig, Geschäftsstelle Matthäikirchhof) und der Architektur-Soziologin Prof. Silke Steets (Universität Erlangen-Nürnberg). Silke Steets beschäftigte sich schon in ihrer Promotion 2007 mit der Situation in der Stadt Leipzig („Wir sind die Stadt!“, zu den räumlichen Alltagspraktiken von Angehörigen der Leipziger Kultur- und Kreativwirtschaft). Weiterhin gilt ihre Forschung der kommunikativen Nutzung und Konstruktion von Räumen — nicht zuletzt öffentlichen und städtischen. Anke Hannemann überblickt seitens der Stadt Leipzig die Entwicklungen zur Zukunft des Areals Matthäikirchhof um ein „Forum für Freiheit und Bürgerrechte“; ebenso auch zur Entwicklung des Freiheits- und Einheitsdenkmals Leipzig. Jens Bisky ist dem Schauspiel Leipzig seit Jahren verbunden in einer Reihe von Expertengesprächen, die das Programm des Schauspiels begleiten und vertiefen. Nicht nur mit „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ (2019) dokumentiert sich sein Interesse, das System Stadt und seinen Wandel zu befragen. Nach vielen Jahren im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gehört er nun zur Redaktionsleitung von „Mittelweg 36“ und „Soziopolis“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Kann man sich Stadt heute noch leisten? Wie hat sich die Struktur von Öffentlichkeit und Stadtgesellschaft verändert? Was bedeutet Stadtöffentlichkeit heute, und wo findet sie noch zusammen? Welchen Einfluss hat die digitale Transformation? Und welche Spuren hinterlässt dabei die Corona-Zeit? Diese Themen diskutiert Jens Bisky mit der Autorin Anke Stelling und dem Stadt-Soziologen Prof. Dieter Rink. Anke Stelling hat nicht zuletzt mit ihren Romanen „Bodentiefe Fenster“ und „Schäfchen im Trockenen“ den Wandel und die Verschiebungen städtischer Lebenssituationen und -mentalitäten scharf thematisiert, nicht nur bezogen auf die Frage des Wohnens. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig; für „Schäfchen im Trockenen“ erhielt sie den Preis der Leipziger Buchmesse 2019. Dieter Rink verfolgt am Leipziger Helmholtz-Zentrum für Stadt- und Umweltsoziologie seit Jahren die mittelfristigen Veränderungen der Städte, aber mittlerweile bereits auch die pandemischen Auswirkungen auf das System Stadt.

20. Juni 2022

Silke Steets und Anke Hannemann

Erwartungen an die Stadt
11. Juli 2022

Anke Stelling und Dieter Rink

Veränderungen der Stadt

Expertengespräche „Dreißig Jahre später“

in der Spielzeit 2019/20
Die Ereignisse des Herbstes ’89 jähren sich zum dreißigsten Mal. Diese Zeit steht schon länger im Fokus der Betrachtungen. Weniger diskutiert ist die Dekade, die darauf folgte: die 90er Jahre. Eine Zeit der Umbrüche, in der viele Weichen gestellt wurden (wirtschaftlich, sozial, politisch), die das Land entscheidend prägten — und die uns in der Folge möglicherweise noch heute beschäftigen. Diese Zeit war der Startpunkt für sehr gegensätzliche Entwicklungen einer ganzen Gesellschaft. Welche Chancen entstanden? Welche Verluste gab es? Wie verschieden wurde sie erlebt, und was bedeutet sie für die Gegenwart?
1989 brach die kommunistische Welt- und Wirtschaftsordnung zusammen. Es begann die große ökonomisch-gesellschaftliche Transformation im Geist des Neoliberalismus, die später auch alte Gewissheiten der Bundesrepublik umwarf. Philipp Ther veröffentlichte mit „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ eine wegweisende Analyse dieser Epoche und ihrer tiefgreifenden Folgen bis heute: Die Diskrepanz zwischen Land und Stadt, zwischen Aufschwung und Stillstand, zwischen neuem Wohlstand und neuer Armut, sie nahm auch dort ihren Anfang.
Zudem erscheint Ende September von Philipp Ther der Essay-Band „Das andere Ende der Geschichte“, der die Themen aus „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ in die Gegenwart weiterverfolgt. Im Gespräch werden Jens Bisky und Philipp Ther die Entwicklungen diskutieren.

Zum dreißigsten Jahrestag der Geschehnisse des Herbstes 1989 nimmt zudem das Schauspiel Leipzig Claudia Bauers Inszenierung von Peter Richters „89/90“ wieder auf, zu sehen auch am 9. Oktober im Anschluss an das Gespräch.
9. Oktober 2019
Philipp Ther

Dreißig Jahre später (III)

Das Ende der Gewissheiten
In seinem Buch „Endspiel“ hinterfragte llko-Sascha Kowalczuk die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zustände und Geschehnisse, die zum Ende der DDR geführt haben. Eine kritische Bestandsaufnahme und zugleich eines der Standardwerke zur jüngeren deutsch-deutschen Geschichte.
Mit seinem Band „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, erschienen Ende August, geht Kowalczuk mit einem erneuten Blick auf diese Zeit ein und verlängert die Fragestellung auf die Entwicklungen bis in unsere Tage. Eine Perspektive, die das Gespräch zwischen Jens Bisky und llko-Sascha Kowalczuk diskutieren wird.

Auch am 28. November ist im Anschluss an das Gespräch die Vorstellung von „89/90“ im Programm.
28. November 2019
Ilko-Sascha Kowalczuk

Dreißig Jahre später (IV)

Einigung oder Übernahme
Die ersten beiden Diskussionen der Reihe „Dreißig Jahre später“ haben bereits in der Spielzeit 2018/19 stattgefunden.

Zum Start diskutierte Dr. Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung) mit Jana Hensel (Berlin) und Frank Richter (Dresden): „Entwicklungen von 1990 bis heute“. Die Schriftstellerin Jana Hensel setzt sich seit „Zonenkinder“ 2002 literarisch und diskursiv mit dem deutsch-deutschen Zusammenleben auseinander. Frank Richter gehörte zur Dresdner „Gruppe der 20“ und war Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen.
4. April 2019
Jana Hensel
Frank Richter

Dreißig Jahre später (I)

„Entwicklungen von 1990 bis heute“
Ursula Lehmann-Grube zog mit ihrem Mann aus Hannover nach Leipzig, als Hinrich Lehmann-Grube 1990 zum Oberbürgermeister der Stadt Leipzig gewählt wurde. 2009 erschienen ihre Erinnerungen an diese Jahre: „Als ich von Deutschland nach Deutschland kam. Leipziger Tagebuch 1990/91“ — unmittelbare Beobachtungen der Entwicklungen, Konflikte und Mentalitäten in dieser Stadt. Der Filmemacher Andreas Voigt hat zur selben Zeit diese Entwicklungen mit seiner Kamera aufgefangen: Seine Dokumentarfilme porträtieren die Menschen dieser Stadt, wie sie mit den Herausforderungen der Jahre umgehen und sie erleben. Einerseits ist es an der Zeit, sich mit diesen Beobachtungen heute noch einmal zu beschäftigen — andererseits geht an beide Gäste die Frage: Wie sehen sie die Entwicklung zum Heute?
Das Gespräch fand statt im und als Kooperation mit dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.
13. Juni 2019
Ursula Lehmann-Grube
Andreas Voigt

Dreißig Jahre später (II)

„Leipzig in den 90er Jahren“

Expertengespräche „ICH ICH ICH ICH ICH“

in der Spielzeit 2018/19

Egozentrik und Gesellschaft. Wie modern ist Faust?

Die Expertengespräche der Spielzeit 2018/19 hatten ausgehend vom Spielzeitmotto die „Faust“-Inszenierung im Blick. Die Inszenierung des „FAUST“ widmet sich der Gegenüberstellung des Einzelnen und der Gesellschaft, Fragen von Konvention und Individuum.
Das Motto der Spielzeit, „ICH ICH ICH ICH ICH“, gilt einer lauter werdenden Gesellschaft in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung rücksichtsloser, umfassender ausgelebt wird als zuvor. Konzepte eines radikalen Individualismus prägen die Arbeitswelt, Familienverhältnisse und Politik. Es sieht so aus, als müsste man sich selbst verwirklichen, als gäbe es keine andere Wahl. Was bringt uns dazu? Und kann man dem Zwang zum Besonderen entfliehen?
Der Soziologe Andreas Reckwitz (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)) fühlt in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ einer Gegenwart den Puls, die das Einzigartige prämiert und sich mit dem Durchschnittlichen langweilt.
Reckwitz nimmt das Ideal der Selbstverwirklichung in den Blick und fragt, welche Folgen der Kult um Originalität und das Besondere hat. Er folgt diesem Streben – hinein in ein Geflecht aus radikal ausgelebtem Individualismus und Besonderheitsdruck, Selbstoptimierung und Frustration. Die Selbstverwirklichungs-Gesellschaft kennt viele Verlierer. Mit den Möglichkeiten wachsen auch die Unzufriedenheiten. Bei allem Streben nach Individualisierung – was ist ihr Preis? Und wie sehr passen sich gerade die Virtuosen der Einzigartigkeit an eine Gesellschaft an?
1. Dezember 2018
Prof. Andreas Reckwitz

Egozentrik und Gesellschaft.

Auch Heinz Bude ist den Dynamiken der Gesellschaft auf der Spur. Wie verhält sich der Einzelne zur Gemeinschaft? Wo entsteht Unzufriedenheit – und welche Kräfte setzt sie frei? Die oft zitierte „Mitte der Gesellschaft“, wie stellt sie sich heute dar? Und wie war sie früher strukturiert? Welche Umbrüche stehen bevor, welche sind noch nicht verarbeitet?

Anne Bohnenkamp-Renken, Leiterin des Goethe-Hauses Frankfurt am Main, ist eine der herausragenden Persönlichkeiten der gegenwärtigen Goethe-Forschung. Anhand der historisch-kritischen Edition des „Faust“-Textes arbeitet sie daran, den jahrzehntelangen Schreib- und Schaffensprozess Goethes näher zu beleuchten, die gesellschaftlich-historischen Umbrüche und ihre Einflüsse auf das Werk freizulegen – und dabei ein Drama zu entdecken, das bereits pointierte ökonomische, wissenschaftliche und ethische Fragestellungen der Moderne und damit Themen der Gegenwart formuliert.
2. Februar 2019
Prof. Heinz Bude
Prof. Anne Bohnenkamp-Renken

Wie modern ist Faust?

Expertengespräche „Angst oder Liebe“

in der Spielzeit 2017/18
In den Gesprächen der Spielzeit 2017/18 näherten sich Experten aus verschiedensten Wissensbereichen und Erfahrungsgebieten der Inszenierung „Kasimir und Karoline“ von Ödon von Horváth und dem Doppelprojekt „Die Maßnahme / Die Perser“ nach Brecht und Aischylos sowie „Wolken.Heim“ von Elfriede Jelinek an.

Die Veranstaltungen finden sich gesammelt dokumentiert im Gesprächsband „Ist der Osten anders?“.
Der Publizist Willi Winkler war im Rahmen der begleitenden Vorträge zum Doppelprojekt „Die Maßnahme / Die Perser“ am 22. November 2017 zu Gast am Schauspiel Leipzig. Das Thema seines Vortrags war: „Die grauenhafte Unbedingtheit. Der deutsche Linksextremismus und 'Die Maßnahme'“.
Vor vierzig Jahren fand in der Bundesrepublik Deutschland mit dem sogenannten „Deutschen Herbst“ der Terror seitens der Rote Armee Fraktion seinen Höhepunkt. „Die Maßnahme“ gehörte zu den zentralen Texten, die innerhalb der RAF immer wieder zitiert wurden, insbesondere im Kreis der in Stammheim Gefangenen. Welches Denken seitens der RAF diesem Bezug zugrundelag und wie sehr literarische Bezüge generell eine Rolle spielten im theoretischen Denken und im Selbstverständnis der RAF, behandelt der Vortrag Willi Winklers, der 2007 mit der „Geschichte der RAF“ eines der Standardwerke veröffentlicht hat.
22. November 2017
Willi Winkler

Die grauenhafte Unbedingtheit.

Der deutsche Linksextremismus und „Die Maßnahme“
Begleitend zur Inszenierung „Die Maßnahme / Die Perser“ sprachen der Osteuropa-Historiker und Publizist Prof. Karl Schlögel und Jens Bisky über die historischen Entwicklungen in der UdSSR und die stalinistischen Schauprozesse im Moskau der 1930er Jahre.
9. Dezember 2017
Prof. Karl Schlögel

„Die Maßnahme“. Realität und Fiktion.

Anlässlich der Inszenierung von „Kasimir und Karoline“ und der Leipziger Uraufführung des Stückes im Jahre 1932 nahm der Soziologie Prof. Heinz Bude die Entwicklung proletarischer Strukturen in den Blick. Für die gegenwärtige Situation erfasste Bude eine Vielzahl von Beschäftigten, die sich in einfachen, gering bezahlten und gesellschaftlich wenig anerkannten Dienstleistungsverhältnissen befinden, deren Problem auch darin besteht, dass sie keine weiteren Karrierechancen mehr bieten. Den entscheidenden Unterschied zu vorangegangenen proletarischen Bewegungen machte Bude darin aus, dass es heute in der Regel keine „Bewegung“ mehr gibt, die diesen Beschäftigten eine geeinte Stimme und gewerkschaftliche Organisation geben könnte. Problematisch wird es auch, so Heinz Bude, wenn seitens der Gemeinschaft dauerhaft Ansehen und Wertschätzung unterbleiben – und sich auf diese Weise Konkurrenzverhältnisse und Behauptungsversuche weiter verschärfen, auch im Wege der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen.
12. Januar 2018
Gerd Koenen

Die Radikalität der Gedanken und die Radikalisierung der Wirklichkeit.

Erzählungen vom Kommunismus und ihr Verhältnis zur Realität.
„Wolken.Heim“ war 1988 Jelineks Durchbruch auf dem Theater — mit einer Thematik, die auch heute wieder vermehrt in den Raum gestellt wird. Über Orientierungssuchen in der Vergangenheit, Debatten der Gegenwart und Konstruktionen deutscher Identität diskutierte Jens Bisky im Anschluss an die Aufführung von „Wolken.Heim“ mit dem Historiker Herfried Münkler („Die Deutschen und ihre Mythen“), sowie dem Publizisten Robert Misik, der im Wiener Falter und im Standard die aktuelle Entwicklung Österreichs begleitet sowie regelmäßig in der taz schreibt.
8. April 2018
Prof. Herfried Münkler und Robert Misik

Was ist deutsch?

Expertengespräche „Woher Wohin“

in der Spielzeit 2016/17
In der Saison 2016/17 fanden in der Moderation von Dr. Jens Bisky von der „Süddeutschen Zeitung“ vier Gespräche statt, die sich speziell mit dem Motto der Spielzeit auseinandersetzten, „Woher Wohin“.
Parallel zu Produktionen wie „89/90“ und „KRUSO“ und den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Debatten in Deutschland konzentrierten sich die ersten Gespräche auf die Frage der gewachsenen Entwicklung und der aktuellen Beziehung zwischen Ost und West: „Ist der Osten anders?“ und „Die Gesellschaft der Empörten“. Dem europäischen Blick und der Frage nach der Zukunft der EU angesichts diverser konträrer Wahlen und Volksabstimmungen galt die dritte Debatte. Das vierte Gespräch diskutierte das Spielzeitmotto mit Bezug auf die aktuelle Bedeutung der Religionen.
Gäste waren Prof. Heinz Bude und Dr. Gregor Gysi, der Politikwissenschaftler Prof. Hans Vorländer und der Soziologe Dr. Oliver Nachtwey, Daniel Cohn-Bendit und die EU-Abgeordnete Róża Thun sowie Dr. Johann Hinrich Claussen von der Evangelischen Kirche Deutschland und die libanesische Ökonomin Rena Tali.
Einige interessante Impulse der Debatten finden Sie hier.

Diese vier Gespräche sind in dem Buch „Ist der Osten anders?“ im Verlag Theater der Zeit als Band 143 in der Reihe „Recherchen“ dokumentiert, ebenso wie die Gespräche, mit denen die begleitenden Veranstaltungen zu „Die Maßnahme / Die Perser“ begannen: Prof. Martin Sabrow sprach über das Selbstverständnis der kommunistischen Eliten in den 1920er Jahren, und Prof. Helmuth Kiesel beschrieb die Parallelen des Werks zu religiösen und totalitären Strukturen.
„‚Ist der Osten anders?‘ […] Wer zumindest versucht, sich auf die Fragestellung einzulassen, erhält aus dem von Jens Bisky, Enrico Lübbe und Torsten Buß herausgegebenen Band vielfältige, vor allem vielstimmige Denkanstöße. […] Dabei geht es kaum je um das Theater im engeren Sinne, sondern stets um die gesellschaftlichen Bedingtheiten, mit denen das Theater umzugehen hat. […] Man kann nach der Lektüre die Eingangsfrage keinesfalls beantworten, versteht aber besser, warum sie gestellt werden muss.“
Die Deutsche Bühne

Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“

in der Spielzeit 2015/16
Im Zusammenhang mit dem Doppelprojekt „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ (Aischylos / Jelinek) wurden auf Einladung des Schauspiel Leipzig erstmals spezielle Inhalte und Fragestellungen der Thematiken beider Stücke vertieft. Elf Gespräche in der Moderation von Dr. Jens Bisky von der „Süddeutschen Zeitung“ diskutierten im Anschluss an die Vorstellungen mit Gästen aus Wissenschaft, Kirche und Stadtgesellschaft. Alle Gespräche im Überblick und weitere Informationen hier.
Unter dem Titel „Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt“ sind diese Gespräche im Verlag Theater der Zeit als Band 124 in der Reihe „Recherchen“ dokumentiert. Zum Webshop
„Das Buch „Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt“ versammelt Ansätze darüber, wie man über Flucht sprechen kann – ungewöhnlich und unaufgeregt.“
taz